Neben Moskau und St. Petersburg zählt das Ural Philharmonic Orchestra zu den bekanntesten
„Mit dem Mariinski-Theater können wir nicht konkurrieren, die sammeln Stradivaris, was wir uns nicht leisten können. Aber für ein Orchester ist es nicht notwendig, dass alle eine Stradivari spielen“, meint Dmitrij Liss, der Chefdirigent und künstlerische Leiter des Ural Philharmonic Orchestra, das zusammen mit den Orchestern von Moskau und Petersburg zu den besten in Russland zählt. Seit dreiundzwanzig Jahren arbeitet Liss, der sein Metier bei Dmitrij Kitajenko in Moskau erlernte, mit dem hundertköpfigen Ensemble von Jekaterinburg zusammen. Eine flexible, musikalisch intelligente Interpretation sei ihm besonders wichtig. Nicht nur russische, auch französische, deutsche oder tschechische Musik soll charakteristisch klingen, mit der Geste, die sie original ausdrückt. Im Gegenzug versuche er, wenn er russische Musik im Ausland als Gast dirigiert, mit den jeweiligen Orchestern russischen Klang zu erreichen.
Die Qualität der Musikinstrumente ist in Jekaterinburg freilich nicht unwichtig: So wurden die Posaunen von der deutschen Firma Thein für jeden Musiker individuell gebaut. Für ihre wachsende Instrumentensammlung hat die Philharmonie schon zehn alte, wertvolle Streichinstrumente, davon eine Bergonzi-Violine und einen Tourte-Bogen – ein Geschenk des Gouverneurs für den Konzertmeister –, erwerben können.
Fast immer ausverkauft
Ob in Frankreich, Belgien, der Schweiz, in Japan oder in Amerika: Überall auf der Welt ist heute das Ural Philharmonic Orchestra ein gern gesehener Gast namhafter Konzertsäle und internationaler Festivals. Liss sind die Eindrücke aus Nantes noch frisch in Erinnerung, wo das Orchester in diesem Jahr im Rahmen von „La Folle Journée“ täglich bis zu drei Konzerte mit unterschiedlichen Programmen spielte, darunter die Uraufführung des groß angelegten Oratoriums „Exodus“ für Sprecher, Chor und Orchester von Olga Viktorova, eines Auftragswerks des Festivals. Eine „Tour de force“ sei es gewesen, auch wenn das Orchester im Umgang mit Neuer Musik versiert ist. „Als Chef leiste ich mir das Privileg, viel zu fordern, ohne zu viel Rücksicht auf die Musiker zu nehmen. Die Musik verlangt oft Unangenehmes, aber für mein Orchester habe ich die Verantwortung. Alle wissen, warum ich etwas verlange und auch, was sie selbst erreichen wollen, ja was wir schon erreicht haben.“ Mit seinem Orchester erarbeitet Liss jedes Jahr etwa siebzig Programme. Auch Kompositionsaufträge werden vergeben, darunter an Leonid Desjatnikov, Alexander Tschaikowsky oder Toshio Hosokawa.
„Bei jeder Tournee zahlen wir drauf“, erklärt Alexander Koloturski, einziger Träger des Nationalen Preises für Kulturmanagement und Kulturentwicklung in Russland und seit 1989 Direktor der Philharmonie Swerdlowsk. Die Institution trägt den Namen der Region und beherbergt das Ural Philharmonic Orchestra, das Ural Jugendsymphonieorchester und den Philharmonischen Chor Jekaterinburg. „Wir investieren gerne, denn das Ansehen des Orchesters und sein musikalisch-künstlerisches Niveau wächst mit jeder Tournee.“ Das zahlt sich aus: Die Konzerte im elegant restaurierten historischen Saal der Philharmonie sind zu 95 Prozent ausgelastet.
Die Finanzierung der Projekte, darunter des internationalen Eurasia Festivals, wird, nebst unternehmerischer Haushaltsführung nach westlichem Vorbild, von der Regierung mitgetragen. Am Ural, „dem Rückgrat des Landes“, entwickelt sich eine starke Region mit internationaler Ausstrahlung und dem Bewusstsein, dass nicht nur die Bodenschätze, die Schwerindustrie oder der Rüstungssektor unabdingbar sind, sondern ebenso die Kultur. Die Philharmonie subventioniert soziale und kulturpädagogische Projekte wie „Konzerthaus ohne Grenzen“, das die Konzerte live in kleinen abgelegenen Ortschaften kostenlos miterleben lässt. Der Bau eines weiteren Konzerthauses mit einem Saal von über 1500 Plätzen und einem Kammermusiksaal ist geplant. Eine atemberaubende Entwicklung, wenn man bedenkt, dass Jekaterinburg bis 1991 unter dem Namen Swerdlowsk zu den sogenannten „geschlossenen Städten“ zählte und sein Kulturleben über Jahrzehnte außerhalb der Stadt so gut wie unbekannt geblieben war. In der Swerdlowsker Philharmonie traten seit ihrer Gründung 1936 unzählige namhafte Künstler auf, von David Oistrach und Leonid Kogan bis hin zu Dmitrij Schostakowitsch und Mstislaw Rostropowitsch.
Vier Termine in Deutschland
Valery Gergiev erinnert sich noch heute, wie er in seinen Studienjahren erste Erfahrungen als Dirigent in Swerdlowsk sammelte. Nach der „Öffnung“ der Stadt schrieb 1992 der damalige Chefdirigent des Orchesters Andrei Borejko hundert Konzertagenturen in aller Welt an, nur eine einzige antwortete: aus Salzburg. In den Folgejahren blieben fünf magere Tourneen in Deutschland und Österreich ohne große Resonanz. Erst 2004 kam ein Vertrag mit der französischen Agentur Sarfati zustande, die dem Orchester bald CD-Aufnahmen ermöglichte, so von Sergej Rachmaninows vier Klavierkonzerten mit Boris Berezovsky beim Label Mirare.
Die Verbindungen nach Deutschland wurden erst einige Jahre später wieder geknüpft, durch die Berliner Musikwissenschaftlerin Tatjana Rexroth. Neben vielfältigen Projekten mit dem Jugendorchester vermittelte sie das Ural Philharmonic Orchestra nach Bonn, wo es zweimal beim Beethovenfest mit außergewöhnlichen Programmen gastierte und voraussichtlich auch zum Jubiläumsjahr 2020 erneut eingeladen wird.
Bei der Tournee durch Deutschland, die am 16. Mai in Friedrichshafen beim Bodenseefestival beginnt und dann bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen, in der Philharmonie Essen und in Berlin Station macht, wird ausschließlich russische Musik erklingen. Vorbereitet sind zwei Programme, die als Solisten den Gewinner des Tschaikowsky-Klavierwettbewerbs Dmitry Masleev vorsehen und die Sopranistin Olga Peretjatko, deren Stimme gewiss jede Stradivari überflüssig macht.